Mittwoch, 18. November 2015

Offener Brief einer gebürtigen Deutschen und Wahlkatalanin


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Ich bin in Deutschland als Tocher und Enkel von Deutschen zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren. Ich war dort das erste Vierteljahrhundert meines Lebens ansässig, bis mir klar wurde, dass ich nicht dort bleiben konnte. Ich wusste nicht, was der Grund für das Unwohlsein war, das mich mein Leben lang begleitet hatte; aber es war offensichtlich, dass ich Abstand brauchte, um eine Perspektive zu gewinnen und einen Weg zu finden, der es mir ermöglichen würde, mich in meiner Haut wohler zu fühlen.

Als ich zum ersten Mal in Katalonien ankam, wusste ich gar nicht, dass es die katalanischen Länder und die katalanische Sprache überhaupt gibt. Nach etwa drei Tagen merkte ich, dass die Leute untereinander in einer Sprache redeten, die anders war als die, die ich an der Universität lernte. Solange ich im Fachbereich der Angewandten Sprachwissenschaften in Germersheim studierte, vermied ich es katalanisch zu sprechen, um mich nicht unnötig zu verwirren. Als ich beschloss, nach Katalonien zu ziehen, tat ich es aus Liebe; nicht aus Liebe zu einem Mann –ich lernte meinen Mann erst zwanzig Jahre später kennen-, sondern aus Liebe zu einer Reihe von Leuten, zu einem Land, einem Volk, einer Lebensweise. Dann habe ich auch katalanisch gelernt, auf meine Art und mit Hilfe meiner Freunde. Ich gab mir zwei Jahre, um zu sehen, ob ich in der Lage war, mir meinen Lebensunterhalt hier zu verdienen.

Jetzt lebe ich seit vierunddreissig Jahren in Katalonien, und ich empfinde mich als Katalanin. Ich erfülle die Bedingungen, die das Gemeinrecht für die Zugehörigkeit zur katalanischen Nation erstellt: ich liebe die katalanische Erde, ich lebe von ihr, und ich spreche die katalanische Sprache. Ausserdem bin ich stolz darauf Katalanin zu sein. Ich bin stolz auf die Bereitschaft, Konflikte im Gespräch einer Lösung näherzubringen, die das katalanische Volk kennzeichnet, auf den Willen und die Fähigkeit zur Integration und den Sinn der eigenen Identität. Ich bin dankbar für die Grosszügigkeit, mit der ich aufgenommen wurde.  Der entschlossene Geist, der die katalanische Sprache über vierzig Jahre der Diktatur am Leben erhalten hat und sie danach wieder als offizielle Sprache eingesetzt hat, ist in Resonanz mit meiner eignenen Entschlossenheit. Die geistige Beweglichkeit der Menschen, die mehr als nur eine Sprache sprechen, die Kreativität und der Fleiss des katalanischen Volkes regt diese Qualitäten auch in mir an.
 
Ich konnte nie stolz darauf sein, Deutsche zu sein. Obwohl hier viele mein Deutschtum als eine Art von Gütezeichen ansehen, war es für mich lang Grund zur Scham. Nach vielen Jahren persönlicher Arbeit habe ich diese Scham als Teil des Unwohlsein erkannt, das auf meiner Kindheit und Jugend lastete. Als ich von der kollektiven Schuld, die das deutsche Volk im sogenannten „Dritten Reich“ erworben hatte, den mir zustehendenTeil anerkannte, fand ich eine Form, die es mir ermöglicht, diesbezüglich Stellung zu beziehen, ohne unter der Last des Schweigens der Anfangsphase meines Lebens unterzugehen, sondern statt dessen die menschliche Natur im Allgemeinen und insbesondere meine eigene zu verstehen. Die deutsche Haltung in der gegenwärtigen Politik ist nun wieder erneut zum Motiv der Scham geworden, aufgrund des Mangels an Verständnis der eigenen Geschichte, die sie zu Tage legt.
 
Leider ist das Gespenst des faschistischen Nationalismus, vor dem die Gegner des Rechts auf katalonische Selbstbestimmung warnen, tatsächlich vorhanden. Aber es ist der Schatten der eigenen unverarbeiteten Vergangenheit, den diese Leute auf den Prozess der katalonischen Souveränität projizieren, und hat mit der wahren Absicht dieses Volkes, sich von der unhaltbaren Politik des spanischen Staates abzugrenzen, überhaupt nichts zu tun. Wir haben keine Invasion oder Annexion vor, auch will hier niemand andere als Sündenbock für in der eigenen Psyche Verleugnetes aus der Welt schaffen. Es geht auch nicht darum, das wir Schwächeren nicht helfen wollen. Wir sind von Natur aus solidarisch und hilfsbereit; zumindest der grösste Teil des katalanischen Bevölkerung ist es. Wir wollen ganz einfach nur von einer ungerechten und unhaltbaren Behandlung Abstand nehmen. Wenn wir uns nicht darum bemühen, werden wir zu Komplizen der Ungerechtigkeit und der unhaltbaren Politik der spanischen Regierung.

Vor kurzem klärte sich ein blinder Fleck meiner persönlichen Geschichte: während des zweiten Weltkrieges war mein Grossvater Offizier der Wache der Pulverfabrik in Düneberg. In diesem Licht gewann sein Schweigen während der Spaziergänge meiner Kindheit mit ihm eine neue Dimension. Wahrscheinlich waren unsere Wege dieselben, die er auch in Erfüllung seines Dienstes bewachte. Ich fragte ihn nie nach den gesprengten Gebäuden mitten im Wald, und er sagte nie etwas darüber. Wir taten so, als wären sie nicht da. Aber ich kann heute noch eine Knoten im Magen spüren, wenn ich daran denke. Dank des Verständnisses, dass ich durch meine innere Arbeit und meinen Beruf als struktureller Integrator, als Praktiker der Somatischen Mustererkennung und als Archetypische Musteranalytiker erreicht habe, weiss ich, dass dieser Knoten ein Reflex der Anstrengung meines Grossvater war, den Wahn, an dem er teilgenommen hatte, aus seinem Bewusstsein fernzuhalten und in Schweigen zu hüllen, und wahrscheinlich auch den Terror in Grenzen zu halten, den er genau wie alle anderen Geesthachter spätestens gegen Ende des zweiten Weltkrieges gespürt haben muss, als der Ort unter direktem Beschuss stand und Gefahr lief, durch eine Riesenexplosion samt kilometerweiter Umgebung von der Landkarte gewischt zu werden. Er war nicht fähig, die Schuld, die Scham und den Terror zu ertragen, und so zog sich der Knoten immer enger zusammen und übertrug sich umso stärker auf das kleine Mädchen an seiner Seite.

Ich bin Deutsche, weil ich in Deutschland zur Welt gekommen bin, das ist unabänderlich. Ich nehme die Scham, die das mit sich bringt, auf mich zusammen mit den dazugehörigen Tugenden. Ausser meinem deutschen Pass hätte ich gern auch einen katalanischen. Weil ich zu Katalonien gehöre, gehöre ich nach vierunddreissig Jahren, in denen ich meinen Beitrag zur spanischen Gesellschaft geleist habe, zwangsläufig auch zu Spanien.

Aber ich kann nicht wählen, weil die Spanier mich zwingen, meine deutsche Staatsbürgerschaft aufzugeben, um die spanische zu erhalten; und das scheint mir unmöglich. Ich möchte wählen können in dem Land, in dem ich die volle Länge meines produktives Lebens gelebt habe und welches ich zu meiner Wahlheimat erkoren habe, Katalonien. Ganz besonders möchte ich an einem bindenden Referendum teilnehmen, das dem katalanischen Volk erlaubt, zu entscheiden, ob wir zu Spanien dazugehören wollen oder nicht; und sollte eine Mehrheit das wollen, in welcher Form sie es will.

Ich möchte in einem Land zu leben, das von Menschen regiert wird, die wissen, dass das Leben auf diesem Planeten eins ist, dass wir Menschen ein Teil der Natur sind und dass es unsere Verantwortung ist, sie zu hegen und zu pflegen, und die ihre Politik auf der Grundlage des Respekt für diese Tatsachen entwickeln. Ich möchte in einem Land leben, in dem es eine unabdingliche Voraussetzung für den Zugang zum öffentlichen Amt und Führungspositionen jeglicher Art ist, die innere Arbeit zu leisten, die Strukturen und Dynamiken des eignenen Ichs und seines Schattens kennenzulernen, und zwar mit beiden Hälften des Gehirns. Das ist zwar noch keine Garantie, aber nur so ist es möglich zu verhindern, dass die Projektionen des eigenen Schattens die moralischen und menschlichen Qualitäten, die jede Führungskraft verkörpern sollte, verfinstern.  Ich glaube, dass die Bedingungen für die Erschaffung einer solchen Regierung in einem kleinen Land günstiger sind.
Brigitte Hansmann
Barcelona, 6-4-2014


Ich erhielt eine Antwort von Herrn Dr. Wienberg, einem der Autoren der sogenannten Deklaration von barcelona, auf die mein offener Brief ein Antwort war, und zwar per email. Der Vollständigkeit halber kopiere ich sie hier:
De: Declaración de Barcelona info at declaraciondebarcelona.com
Enviado el: martes, 15 de abril de 2014 21:15
Para: brigitte at ermie.net
Asunto: RE: offener Brief einer gebürtigen Deutschen und Wahlkatalanin

Sehr geehrte Frau Hansmann,

vielen Dank für die Übersendung des links zu Ihrem offenen Brief, der mich sehr beeindruckt hat. Insbesondere die Schilderung Ihrer Erlebnisse mit Ihrem Großvater hat mich sehr betroffen gemacht. Auch mein Großvater sprach nie über das, was er Schreckliches im Krieg erlebt hatte. Er musste nach dem Krieg noch einen weiteren furchtbaren Preis zahlen, nämlich den Verlust seiner so sehr geliebten Heimat in Oberschlesien. Wie doch die Geschichte an uns nagt und das meiste davon wird uns nicht einmal bewusst!

Auf unsere Declaración de Barcelona nehmen Sie nur mittelbar am Ende Ihres Schreibens Bezug, in dem Sie die Ansicht äußern, dass die Bedingungen für die Erschaffung einer guten Regierung in einem kleinen Land Ihnen günstiger erscheinen. Diese Ansicht ist absolut legitim und auch gut vertretbar, obwohl ich persönlich der Ansicht bin, dass eine Teilung nur schwächt und daher sich nachteilig auswirkt.

Es geht aber nicht darum, was gut, besser oder schlecht ist, sondern darum, was rechtmäßig und was rechtswidrig ist und in einem Rechtsstaat ist es einer Minderheit nicht gestattet, gegen die überwältigende Mehrheit des Staatsvolkes, ihre Vorstellungen einseitig durchzusetzen. Hierzu sende ich Ihnen eine sehr gute staatsrechtliche Begründung, die in einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom 8. April zu lesen war.

Falls Sie hiergegen einwenden, dass es ungerecht sei, die Katalanen nicht über Ihre Zukunft abstimmen zu lassen, so will ich damit mit Aristoteles antworten:

„Das Recht ist nichts als die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung, und eben dieses Recht ist es auch, das darüber entscheidet, was gerecht ist.“


Mit den besten Grüßen

Dr. Carlos Wienberg

Meine Antwort:
Sehr geehrter Dr.Wienberg,

vielen Dank für Ihre Antwort auf meinen offenen Brief. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sie direkt  als Kommentar auf dem Blog veröffentlichen würden. Dann kann ich meine Antwort dazutun.

Wenn traumatische Erlebnisse nicht bewusst verarbeitet werden, kann das innere Gleichgewicht nicht wiederhergestellt werden, selbst wenn man sich schon lange wieder in Sicherheit befindet. Der Organismus muss dann die Abwehrmechanismen, die es ihm ermöglicht haben, das Schlimmste erstmal zu überleben, weiterhin aufrecht erhalten. Würde er sich entspannen, dann kämen eine Reihe von Empfindungen zutage, die mit den traumatischen Erlebnissen zusammenhängen. Das wird leider meist verhindert durch Verdrängung, Unterdrückung, Ablenkung, Drogen, Alkohol oder Medikamente, oder eine Kombination davon. Und so bleibt das Trauma unterhalb der Bewusstseinsschwelle ständig aktiv,  je nach Umständen latent oder akut.

Traumatische Erlebnisse hinterlassen Spuren nicht nur bei Opfern, sondern auch bei Tätern und selbst bei Augenzeugen. Wenn sie nicht bewusst verarbeitet werden, können sie Verhaltensmuster hervorbringen, die das ursprüngliche Trauma immer wieder wiederholen, wobei ursprüngliche Opfer manchmal zu Tätern werden. Geschichte bleibt auf diese Art nicht nur im individuellen sondern auch kollektiven Bereich lebendig. Sie bestimmt die Gegenwart durch körperliches Erleben, das von Generation zu Generation übertragen wird und die Wahrnehmung der tatsächlichen, gegenwärtigen Bedingungen trübt.

Sie haben voll und ganz recht, wenn sie schreiben, dass es nicht darum geht, was gut, besser oder schlecht ist. Aber darum, was rechtmäßig und was rechtswidrig ist, geht es im Grunde genommen auch nicht, denn in einem Rechtsstaat ist das Definitionssache. Schon Aristoteles wusste, dass die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung auch bestimmt, wie diese Ordnung den Umständen der gegenwärtigen Realität angepasst werden kann. Darauf wies vor kurzem auch Herr Rubalcaba hin: das Grundgesetz beinhaltet auch Bestimmungen darüber, wie es geändert werden kann. Worum es wirlich geht, ist darum, dass wir Menschen dazu neigen, das zu wiederholen, was wir nicht erinnern wollen.

Den Artikel der Frankfurter Rundschau vom 8. April 2014, den Sie mir freundlicherweise schicken, hatte ich sogar schon gelesen. Herr Dahms desqualifizierender Ton ist typisch für jemanden, der davon überzeugt ist, sich auf einem Standpunkt zu befinden, der ihm eine objektive Perspektive ermöglicht. Wo immer man sich auch hinstellt, stets bleibt ein Teil der Realität ausserhalb des eigenen Blickwinkels. Darum ist es wichtig, die eigenen Filter, durch die Realität wahrgenommen wird, zumindest erstmal kennenzulernen, um den ihnen zukommenden reellen Wert einschätzen zu können und sie, soweit möglich, zu eliminieren. Dann sollte man sich auch um die eigene Achse drehen und die verschiedenen Panoramen in Betracht ziehen, die so zu Augenschein kommen. Ich bin mir sicher, dass Herr Dahms rechter Schuh an der Hacke aussen stärker abgenutzt ist als innen und als sein linker Schuh. Ich möchte damit keinesfalls eine Aussage über seine politische Neigung machen. Aber bei Menschen, die sich von der vor ihnen befindlichen Realität emotional zurückziehen und von den Empfindungen des eigenen Körpers Abstand nehmen, ist meist viel mehr Gewicht auf dem rechten Fuss hinten aussen an der Ferse.

Aus Ihrer persönlichen Ansicht hinsichtlich einer “Teilung“ geht hervor, dass Sie es für vorteilhaft  halten, stark zu sein. Es ist schön, dass Sie gern stark sein möchten. Aber ich frage mich wofür und für wen Sie stark sein möchten. Stärke wirkt sich oft nachteilig aus, wenn Sie die Fähigkeit beeinträchtigt, klar wahrzunehmen. Sie wird oft dazu verwendet,  auf dem Fortbestand überlieferter vergangener Bedingungen zu beharren und dazu im Konflikt stehende Umstände einfach zu unterdrücken. Doch unterdrückte oder verdrängte Tatsachen sind keinesfalls aus der Welt geschafft; denn unterschwellig wachsen sie und werden zu Krankheit, Gewalttätigkeit, und unkontrollierbaren Fehlhandlungen. Da wird manches als menschliche Natur dargestellt, was eigentlich aus traumatischer Erfahrung entstanden ist. Tatsächlich glauben vielen Menschen, dass Stärke zum Überleben unabdingbar ist, doch die menschliche Entwicklung war nur möglich, weil es in unserer Natur ist, einander zu helfen, nicht weil wir stärker sind als andere.

Ich würde es nicht „Teilung“ nennen, was das katalanische Volk angestrebt. Was Ihre Deklaration im Einklang mit der deutschen Presse und der spanischen Regierung als separatistische Bestrebungen darstellt, erscheint mir als der Anspruch auf die vor 300 Jahren testamentarisch festgelegten Bedingungen, die vom damaligenTronfolger missachtet wurden. Der „Kaffee für alle“ bei der Einrichtung der autonomen Regionen im demokratischen Spanien schien ein weiterer Versuch, die Katalonien historisch zustehenden Rechte in einer Allgemeinregelung untergehen zu lassen. Jenseits der durch staatliche Ordnungen festgelegten Regelungen gibt es auch im Recht eine Art Kraftfeld, das genauso wirkt wie die Schwerkraft. Das ist eine der archetypischen Konstanten der Natur. Jederman weiss, dass eine Struktur, die in der Schwerkraft ausgewogen ist, sich durch Stabilität und Widerstandskraft auszeichnet. Im Konflikt mit der Schwerkraft hingegen kann sich auf Dauer nichts aufrecht erhalten. Genauso ist es im Recht. Bestimmungen, die friedlichem Zusammenleben förderlich sind können Bestand haben. Unrecht bleibt Unrecht und schafft auch nach 300 Jahren noch Leiden.

Mit freundlichen Grüßen
Brigitte Hansmann