Montag, 4. September 2017

Meine Mutter, Mechthild Borrmanns Trümmerkind und Cay Rademachers Oberinspektor Stave

Als 1943 der alliierte Bombenhagel weite Bereiche Hamburgs zertrümmerte, was meine Mutter gerade 14 geworden. Sie hat nie darüber gesprochen. Ein einziges Mal beim Feuerwerk des Geesthachter Schützenfests –ich weiss nicht mehr, wie alt ich da war, vielleicht zehn, elf oder zwölf- hat sie erwähnt, dass es ihr schwerfiel, sich an Feuerwerken zu erfreuen, weil ihr dabei immer die Erinnerung an den Feuersturm hochkam. Das hat mich zwar beeindruckt, aber so richtig nachvollziehen konnte ich es nicht. Auch wagte ich es nicht zu fragen, um mehr zu erfahren, obwohl ich sonst eigentlich viel gefragt habe, über dies, das und jenes. Aber erst in der zweiten Lebenshälfte haben es mir Dokumentar- und Spielfilme, ein Buch mit Photos der zertrümmerten Stadt Hamburg und Bücher über die Heimatgeschichte von Geesthacht ermöglicht, mir ein Vorstellung davon zu machen, wie es für meine Eltern gewesen sein muss, in den dreissiger und vierziger Jahren in Deutschland aufzuwachsen. Darüber gesprochen wurde bei uns zu Hause herzlich wenig.


Ich fand Mechthild Borrmann Trümmerkind auf dem Hamburger Flughafen im Winter 2016. Ich war auf dem Weg zurück nach Barcelona, wo ich seit 37 Jahren zu Hause bin, nach einem Vortrag über die „Schatten der Weltgeschichte im persönlichen Erleben“, den ich in meiner Heimatstadt Geesthacht hielt im Rahmen des 800-jährigen Jubiläums der Stadt und der Alfred-Nobel Tage, die alljährlich vom Förderkreis für ein Geesthacher Industriemuseum organisiert werden.   

Die Lektüre von Trümmerkind verschaffte mir Zugang zu einem Bereich des Lebens meiner Mutter, den sie mit all ihrer Kraft aus ihrer bewuβten Empfindung ausgeschlossen hatte. Vor vielen Jahren, Anfang der 90er, als ich durch meine Arbeit mit dem Duggan/French Approach (DFA) für Somatische Mustererkennung und  im Laufe einer Jungianischen Analyse Zugang zu meinem eigenen Innenleben fand, sah ich die Trümmerfelder der Stadt in Träumen. Mein Innenleben war mir bisher verschlossenen gewesen, denn es ist im täglichen Umgang mit der Mutter ganz besonders in den ersten Lebensjahren, wo das Innenleben sich gestaltet. Die verschlossenen Bereiche im Innenleben meiner Mutter hatte ich direkt, sozusagen unter Verschluβ, übernommen. Es waren wohl diese Bereiche, die dafür sorgten, das es sich so anfühlte, als ob die Verbindung mit meiner Mutter bestenfalls schwierig war.

Im Laufe der Jahre lernte ich es, besser mit der Schwierigkeit der Verbindung zu ihr zurechtzukommen, aber erst nach ihrem Tod ist mir aufgefallen, wie viel ich nicht weiβ von ihrem Leben, und wie viel ich doch gern wissen würde. Ich bin Frau Borrmann dankbar für den Zugang, den Trümmerkind mir ins Innenleben meiner Mutter eröffnet hat. Als ich sehen wollte, ob es eine englische Übersetzung des Romans für eine Freundin gibt, fand ich Der Trümmermörder, das erste Buch der Triologie von Cay Rademacher über Oberinspektor Stave. Seine Ermittlungen haben mich meiner Mutter noch viel näher gebracht, denn sie vergegenwärtigen Zustände und Gegebenheiten, die zu ihrem Alltag gehört haben müssen. Staves Wege, Gedanken und Gefühle haben einen Bereich in meinem Innern, der in einem vagen Dunst gehüllt war, mit Leben gefüllt. Ein schwieriges und hartes Leben, erfüllt mit Schmerz, Traurigkeit, Verlust, Hunger, Durst, üblen Gerüchen und vielerlei Gefahren und Entbehrungen, aber besser als der nebulöse Dunst, in dem man nichts sehen, geschweigen denn klar erkennen kann. Die Vergegenwärtigung dieser eher unangenehmen Gefühle und Empfindungen hat die unter ihnen begrabene Liebe meiner Mutter zum Vorschein gebracht und mich damit gestärkt, auch wenn sie schon seit vielen Jahr nicht mehr am Leben ist.  Vielen Dank dafür, Herr Rademacher!


Sehr gern würde ich es sehen, wenn die Ermittlungen des Oberinspektor Stave einer Spur nach Geesthacht folgten, in das Umfeld der Dynamit- und Pulverfabriken, die 1947/48 schon teilweise gesprengt und teilweise anderen Zwecken zugeführt worden waren. Nicht dass ich von einem ungeklärten Mordfall wüβte, den könnte man bestimmt finden oder erfinden. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass die körperlichen und psychischen Folgen in den Familien die in der Dynamit- und in der Pulverfabrik gearbeitet haben, bei seinen Ermittlungen zum Vorschein kämen.

Von diesen Folgen handelte mein Vortrag im Förderkreis für ein Geesthachter Industriemuseum. Es ging um „Verstehen und Therapie traumatischer Erlebnisse am Beispiel der Geesthachter Kriegsgeschichte“. Ich sprach sehr lange, zu lange; und so war am Ende nur ganz wenig Zeit für eine praktische Anwendung im Sitzen, Stehen und Gehen, um das Verhältnis des Körpers zur Schwerkraft wahrzunehmen und Unterstützung  und eine freiere Bewegung zu finden. Nur ganz kurz haben wir einige Merkmale der gewohnten Form der Bewegung und Haltung aufgezeigt und im Kontrast dazu einer an der Schwerkraft ausgerichteten Form nachgespürt.

Die meisten Teilnehmer spürten wohl einen Unterschied zwischen beiden Formen, ihrer gewohnten Haltung und einer im Schwerkraftfeld ausgewogeneren. Um jedoch das Ausmaβ und die Bedeutung dieses Unterschiedes wirklich zu verstehen, hätten sie mehr Zeit gebraucht. Zwei Herren fortgeschrittenen Alters war allerdings auf Anhieb klar, was sie da spürten: eine sicherere Grundlage, mehr Unterstützung, ein freierer Blick und freiere Bewegung und Atmung, mehr Stabilität bei einem ausgewogenen Verhältnis zur Schwerkraft; im Gegensatz zu Verspannung, Zurückhaltung, eingeschränkter Bewegungsfreiheit, verhaltenem Atem, einem engeren Gesichtsfeld, usw., in der gewohnten Haltung. Beide Herren waren im Krieg Kinder; einer war sechs in der Nacht des Feuersturms über Hamburg, der andere was vier während der Flucht aus dem Osten. Beide hatten in der zweiten Lebenshälfte einen Zusammenbruch in der Folge des posttraumatischen Stresses im Zusammenhang mit ihren Kriegserlebnissen. Beide sahen sich gezwungen, die innere Arbeit zu leisten, um ihr inneres Gleichgewicht wiederherzustellen. Durch diese innere Arbeit gewannen beide an Empfindsamkeit und Spannkraft, so dass sie den eigenen Körper und ihr Verhältnis zur Umwelt klarer wahrnehmen konnten als Menschen, die diese Arbeit nicht getan haben.

Es ist nicht nötig zu warten, bis man nicht mehr kann und zusammenbricht. Die Arbeit kann getan werden, solange man noch bei Kräften ist. Zwar ist das nicht jedermanns Sache, aber zur Wahrung einer guten Gesundheit für viele letzenendes unausweichlich. Viele sagen, man soll die Vergangenheit ruhen lassen. Das ist wohl richtig, solange sie wirklich ruht. Doch das kann sie meist nicht, wenn sie ständig durch unbewuβte Wiederholungen gegenwärtig gehalten wird, wie es geschieht, auch wenn man selbst die traumatischen Gegebenheiten gar nicht erlebt hat, denn Trauma wird unbewuβt von Generation zu Generation weitergegeben.

Es ist in unserem Innern, wo wir die Reaktion auf traumatische Geschehnisse zur Ruhe bringen können. Doch dafür müssen wir hinschauen. Wenn wir die Muster erkennen, können wir unser Vehalten neu ausrichten, so dass wir die Vergangenheit wirklich hinter uns lassen können. Dann wird sie uns den Rücken stärken und das Wissen und die Erkenntnis, die wir dabei erwerben, werden uns dabei helfen, der Dynamik der Gewalt entgegenzuwirken, statt von ihr mitgerissen zu werden als Täter, Opfer oder Zeuge. Die Geschehnisse in der Welt machen den Kreislauf der Gewalt und Zerstörung klar und deutlich. Aber es ist nicht die menschliche Natur, sondern nichts anderes als die blinde Wiederholung ungelöster Traumata auf individueller und kollektiver Ebene.

Es ist nicht einfach zu erkennen, inwieweit das eigene Leben vom kollektiven Trauma der Kriege und Diktaturen der Vergangenheit bestimmt ist, ganz besonders, wenn die Traumareaktion von vorherigen Generationen übernommen wurde. Wer kommt schon auf den Gedanken, dass die Symptome einer Krankheit aus dem ungelösten posttraumatischen Stress der Eltern oder sogar der Groβeltern entstanden sein können. Zum einen müβte man verstehen, wie Körper und Psyche sich entwickeln, zum anderen muβ man etwas über die geschichtlichen Hintergründe wissen. Romane wie die von Frau Borrmann und Herrn Rademacher können dabei helfen, das Verhalten der Eltern und Groβeltern zu verstehen und einen Kontext für eigene Empfindungen und Verhaltensweisen schaffen, die im Zusammenhang mit den Geschehnissen des eigenen Lebens wenig Sinn ergeben, mit den Geschehnissen der vorangegangenen Generationen aber im Einklang sind.

Ein Wandel auf der kollektiven Ebene, der ein friedliches Zusammenleben der Menschen und Völker ermöglichen könnte, wird wahrscheinlich nur in dem Maβe möglich sein, indem eine Vielzahl einzelner Menschen individuell dazu bereit sind, die innere Arbeit zu leisten, die von unseren Vorgängern zurückgelassenen Trümmer zu räumen. Gewiss mag man dabei die eine oder andere Leiche finden, so kann man dann die ihr gebührende Ehre erweisen; aber auch Schätze und Kunstwerke, die Liebe einer Mutter für ihr Kind, und so manches andere Nützliche wird dort zu finden sein.

Sehr gerne würde ich mit Autoren und Produzenten in Film, Fernsehen, Literatur und Theater als Berater für archetypische Kohärenz zusammenarbeiten, so dass ihre Werke nicht zu einer simplen Wiederholung der traumatisierenden Bedingungen sondern zu deren Lösung beitragen.

Brigitte Hansmann
Somatische Mustererkennung
Archetypische Musteranalyse
Tel.: (+34) 606676436
www.dfa-europa.com

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