Mittwoch, 5. Juni 2019

Des Kaisers neue Kleider oder Bomben unterm Meer

Die vermeintliche Rechtmäβigkeit der angeblichen Einheit Spaniens

Seit dem bewaffneten Aufstand der Rebellen unter dem Kommando des Generals Francisco Franco gegen den demokratischen Rechtsstaat wurde groβe Sorgfalt darauf verwendet, ihrem Vorgehen einen Anschein von Rechtmäβigkeit zu geben. (1) Die Hinrichtung der Regimegegner, die sich bis in die siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erstreckten, geschah unter dem Schutz von Gesetzen, die zu diesem Zweck verabschiedet wurden. Der Fortbestand des Regimes nach dem Tode des Diktators in Form einer parlamentarischen Monarchie wurde gemäβ seiner testamentarischen Bestimmungen gesichert. Eine „Amnistie“ wurde verfügt durch ein Gesetz, das die Untersuchung der Verbrechen gegen die Menschheit, die unter dem Franco-Regime stattgefunden haben, verhindern sollte.Vom Staatsstreich gegen den demokratischen Rechtsstaat 1936 bis hin zur Gegenwart stimmt die vom spanischen Staat verkündete Rechtmäβigkeit genau mit des Kaisers neuen Kleidern überein.

Der Prozess gegen die katalanischen Politiker und Leiter der Bürgerinitiaven ANC und Omnium und die kontinuierliche lawfare gegen jegliche Souveränitätsbestrebung ist ein weiteres Beispiel. Tatsächlich ist die Interpretation des Artikels über die Einheit Spaniens, auf die sich die ganze Anklage stützt, verfassungswidrig. Die gesamte Konstruktion des Falls, die Anklage, die Untersuchungen, die Bestrebungen, die Befragung des katalanischen Volkes zu unterdrücken, all das basiert auf Amtsanmaβung und Veruntreuung öffentlicher Mittel. Der spanische Staat macht sich also wiederum in aller Öffentlichkeit genau der Delikte schuldig, für die er die Vertreter des katalanischen Volkes anklagt.

Warum wagt es weder die internationale Gemeinschaft noch die spanische Bevölkerung, darauf hinzuweisen, daβ der Kaiser nackt ist? Auf dem Meeresboden liegen in aller Welt Millionen von Tonnen an Bomben, Minen, Torpedos, Granaten, Giftgase, Munitionen und Waffen jeglicher Art, die entweder im Kampf versenkt wurden im Verlauf der zwei groβen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts oder jeweils danach in der Absicht, sie so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. Das Metall verrostet und gefährliche Substanzen geraten in die Nahrungskette der Meeresbewohner, und somit auch in unsere, sie werden an die Strände geschwemmt und in Fischernetzen an Bord gezogen, führen zu Verletzungen, Tod und Erkrankungen. Und die Verantwortlichen schweigen. (2)

Das Meer ist ein Symbol des kollektiven Unbewuβten und die Inhalte, die sich darin befinden, können im wahrsten Sinne des Wortes explodieren und die Weltanschauung und das Selbstbild vieler Menschen zerstören; sie können deren Leben verschmutzen, und Krankheiten können daraus enstehen, wenn sie nicht erkannt, geborgen und sachgemäβ entschärft werden.

Der „Sieg“ der Rebellen hat eine tiefe Spaltung in der spanischen Gesellschaft bewirkt in Sieger und Besiegte. Das Vorhaben der Sieger, die Besiegten ihren Vorstellungen gemäβ zu formen, hat nicht nur die Gesellschaft gespalten, sondern hat auch bei den meisten Spaniern dazu geführt, daβ sie den Zugang zu ihrem eigenen Innenleben verloren haben. Die Besiegten muβten ihre Gefühle verbergen, um sich nicht dem Risiko auszusetzen, als Regimegegner denunziert und hingerichtet oder aus der Gesellschaft ausgeschlossen  zu werden. Nur eine gewisse Zahl von Leuten, die über eine ausreichende Fähigkeit zur Resillienz verfügten, waren in der Lage, die Hölle der Verfolgung im Laufe der Nachkriegsjahre unter dem Schutz ihrer tiefen Überzeugungen zu durchqueren. Viele konnten nichts weiter tun, als die wenigen Möglichkeiten nutzen, ihre Gefühle zu verarbeiten, um soweit wie möglich zu überleben. (3) Die Sieger hatten zwar eine Vielzahl an Gelegenheiten und Unterstützung zur Verarbeitung ihrer Trauer über ihre Verluste, aber die Schuld, die sie durch ihre Mitwirkung bei der Stürzung des demokratisch gewählten Rechtsstaates erworben hatten, hielten sie nicht aus. Sie wurde verdrängt, denn für die Sieger war es undenkbar, daβ sie durch ihr Handeln ein Schuld auf sich geladen hatten. Sie fühlten sich total im Recht. Und so ist es auch bei bei ihren Nachfolgern: auch für sie ist die Schuld ihrer Vorgänger unerträglich und somit undenkbar. Darum projizierten und projizieren sie sie auf die Besiegten und deren Nachfolger. Sowohl die Sieger wie auch die Besiegten übertrugen die unverarbeiteteten unbewuβten Inhalte ihrer Psyche auf ihre Nachfolger, die ihrerseits die selben Dynamiken wiederholen oder daran erkranken. 

Die Gewalttätigkeit der Sieger gegen die Besiegten hat eine tiefe Spaltung in der spanischen Gesellschaft bewirkt, die sich bis in die Gegenwart erstreckt. Sie ist vorhanden in der Psyche der Besiegten, die an ihrer eigenen tatsächlichen oder moralischen Hinrichtung mitwirkten, die zum Werkzeug des Genozids wurden und die Länder, die nicht spanisch sein wollen, mit verarmten Spaniern bevölkerten, und auch derer, die sich von den katalanischen Souverenitätsbestrebungen bedroht fühlen und darum "a por ellos" singen. Gespalten ist auch die Psyche der Sieger, die sich damit brüsteten und brüsten, eine legitime Regierung enthauptet zu haben, die sich unter den Sotanen der Rechtssprechung verbargen und verbergen, und derer, die verkündeten und verkünden, daβ sie Politik für die gesamte Bevölkerung machen wollen, aber gleichzeitig die Bestrebungen der Bevölkerung, die anders sind als ihre eigenen, für illegal erklären.

Wenn die internationale Gemeinschaft oder die spanische Bevölkerung die Nackheit des Kaiser aufzeigen würde, müβten sie die Spreng- und Giftstoffe in den Gewässern ihrer eigenen Psyche zur Kenntnis nehmen. Und das macht Angst. Tatsächlich ist es gefährlich, aber es nicht zu tun, ist noch viel gefährlicher.

Ob es sich nun um tatsächliche Bomben auf dem Meeresgrund handelt oder um unbewuβte Materialien im Zusammenhang mit Trauma und Schuld, sowohl eigene als auch ererbte, sie zu erkennen und zu bergen ist mit einem groβen Kosten- und Zeitaufwand verbunden. Wenn wir es nicht angehen, sind unsere Zukunftsaussichten um ein Vielfaches düsterer. Aber wenn wir die nötige Arbeit tun, kann der Teufelskreis des Traumas zu einer Lernspirale werden. (4)

© Brigitte Hansmann, Archetypische Musteranalyse

(1) Gómez Bravo, G., Geografía humana de la represión franquista: del golpe a la guerra de ocupación (1936-1941), Cátedra, Madrid 2017

(2) Bomben im Meer, ein Film von Frido Essen, Das Erste Montag, 3. Juni 2019, https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/bomben-im-meer-100.html  (gesehen am 4. Juni; heute, am 13. Juni konnte ich nur noch die Reportage über den Film finden, das Video ist nichtmehr zu finden und im Archiv des Tages der Sendung erscheinen nur andere Documentarfilme)

(3) Sieburth, S., Coplas para sobrevivir: Conchita Piquer, los vencidos y la represión franquista, Cátedra, Madrid 2016

(4) Hansmann B. Generationsübergreifende Traumata - Teufelskreis oder Lernspirale, https://ellabuchenwald.blogspot.com/2018/12/generationsubergreifende-traumata.html 

Der selbe Text auf Katalanisch: El vestit nou de l'emperador

www.dfa-europa.com

Montag, 25. Februar 2019

Die Wende

Eigentlich war ich 1977 auf dem Weg nach Marokko, um dort einen Freund zu besuchen. Doch dann entdeckte ich Katalonien. Irgend wie war ich erleichtert. Ich fühlte mich sicher und aufgehoben, wie zu Hause. Die sogenannte Wende (la transición) von der Diktatur unter Franco zu einem demokratischen Rechtsstaat führte 1978 zur  Verabschiedung der Verfassung einer parlamentarischen Monarchie, so wie Franco es in seinem Testament verfügt hatte. Der Gedanke, beim Aufbau einer jungen Demokratie mitzuwirken, war einer der Beweggründe, die zu meinem Beschluβ führten, mich nach Abschluβ meines Studiums der Angewandten Sprachwissenschaften 1980 in Barcelona niederzulassen. All diese Jahre habe ich zunächst als Übersetzerin und später als Praktiker der Somatischen Mustererkennung und als Archetypische Musteranalytikerin meinen Beitrag zu den Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft geleistet, indem ich Menschen dabei half, sich untereinander und sich selbst zu verstehen und demokratisches und selbstbestimmtes Handeln zu erlernen. 

Am 6. September 2017 legte ich mich wie gewöhnlich nach dem Mittagessen ein Weilchen aufs Sofa und machte die Augen zu. Im Fernsehen liefen die Nachrichten. Als ich die Stimme der Präsidentin des Parlaments Carme Forcadell hörte, die Marta Rovira fragte, warum sie um das Wort bat, war ich auf einmal hell wach. Ich hatte das Gefühl, daβ alles, was ich in meinem Leben bisher getan habe, darauf abzielte, mich auf das vorzubereiten, was in diesem Moment begann. Ja selbst der Ort, an dem ich zur Welt kam, hat mir mit seiner Geschichte die nötigen Umstände geboten, die mich dazu führten, ein Wissen und Verständnis zu entwickeln, das für den Prozess der Selbstbestimmung unabdinglich ist.

Demokratisches Verhalten muβ man lernen und üben, nicht nur in Spanien. Da reicht es nicht, eben mal eine Verfassung zu verabschieden und sich dann stets auf deren felsenfestes Bestehen zu berufen. Zunächst einmal ist die spanische Verfassung verfasst worden von Menschen, die noch voll unter dem Bann des totalitären Regimes standen, in Erfüllung eines testamentarischen Mandats des Diktators und ohne Klärung der Verbrechen gegen die Menschheit, die unter diesem Regime stattgefunden hatten. Der Artikel über die unteilbare Einheit des Vaterlandes aller Spanier, auf dem die gesamte Argumentation des spanischen Staates gegen die katalanischen Bestrebungen zur Selbstbestimmung beruht, ist mit dem Rest der Verfassung, mit den Grundprinzipien eines Rechtstaates,  mit dem internationalen Recht und mit den allgemeinen Menschenrechten nicht vereinbar. In der in Spanien verfochtenen Interpretation ist er tatsächlich verfassungswidrig und rechtswidrig!

Wenn man davon ausgeht, daβ die Absicht, einen demokratischen Staat zu schaffen, ehrlich ist, muβ man dem auch die nötige Zeit zugestehen. Der Prozess der Wende hat bestenfalls gerade mal die erste Phase durchlaufen. Die Korruption zahlreicher Politiker der jeweils regierenden Parteien in Spanien ist Ausdruck der Unreife in dieser Hinsicht. Auch die Ernennung bzw. Absetzung von Richtern gemäβ der politischen Interessen der jeweiligen regierenden Parteien bezeigt einen Mangel an Reife in Sachen Gewaltenteilung. Die ständigen Beteuerungen der spanischen Politiker und Justizbeamten sowie des monarchischen Staatsoberhauptes, das Spanien eine konsolidierte Demokratie und ein moderner Rechststaat sei, hören sich angesichts ihrer Haltung, ihrer Aussagen und ihrer Handlungen für diese Musteranalytikerin an wie die Beteuerungen eines zweieinhalbjährigen, der darauf besteht, daβ er seine Schuhe alleine zubinden kann. Es ist nicht genug, Namen anzunehmen, die auf eine demokratische Haltung hinweisen. Demokratisches Verhalten zu erlernen und einzuüben geht nicht von heute auf morgen. Vor allen Dingen muβ man bereit sein, Andersdenkenden Gehör zu schenken, und die Möglichkeit erwägen, daβ sie Recht haben und man selbst vielleicht nicht.

Wenn man zum Beispiel dem jetzigen Auβenminister Borrell zuhört,  ob er nun Englisch radebrecht oder Französisch oder Spanisch spricht, selbst wenn man keine dieser Sprachen versteht, kann man ganz klar sehen und hören, daβ er den Raum in seinen Mund sehr klein macht. Wahrscheinlich ist es ihm nicht bewuβt, aber sein Körper weiβ ganz genau, daβ er zu dem, was er sagt, nicht stehen kann. Aber das auch zuzugeben, wäre ihm persönlich wahrscheinlich höchst unangenehm, nicht zuletzt weil es ihn in Spanien recht unpopulär machen würde . 

Für Deutsche und Koreaner, z. B., die eine gewaltsame Teilung ihrer Heimat erlebt haben, ist es nicht leicht zu verstehen, daβ das katalanische Volk sich aus der sogenannten Einheit Spaniens ausgliedern möchte, denn die Tatsache, daβ diese vermeintliche Einheit gewaltsam erzwungen wurde im 20. Jahrhundert von den Rebellen unter dem Kommando von General Franco und vor 300 Jahren von den Truppen von Felipe V, dem Enkel des französischen Absolutisten Louis XIV, in Miβachtung der testamentarischen Bestimmung, daβ die unterschiedlichen Institutionen und Rechte der verschiedenen Reiche zu achten seien, wird in Spanien und weiten Teilen Europas verschwiegen, geleugnet oder als irrelevant abgetan.

Das Verfahren gegen die vom katalanischen Volk gewählte Regierung und die Leiter der Bürgerinitiativen Omnium und ANC, das am 12. Februar 2019, begann, wird zeigen, ob vierzig Jahre Übung in demokratischem Verhalten wenigstens den Beginn eine Wende zustande gebracht haben, oder ob die Schergen des Diktators weiterhin am Werk sind. Ich bin stolz auf die Haltung der Leute, die jetzt auf der Bank der Angeklagten sitzen. Vom Gehalt ihrer Aussagen bis hin zum Klang ihrer Stimmen kann man hören und sehen, daβ sie von ganzem Herzen sprechen und wahrhaftig zu dem stehen, was sie sagen: Selbstbestimmung ist kein Delikt. Das ist so erfrischend im Vergleich zu der emotionalen Ladung, den Lügen und der Rechtsverdrehung in den Reden all derer, die die sogenannte Einheit Spaniens mit allen Mitteln verteidigen wollen und dabei Worte wie Demokratie, Verfassung, Rechststaat auf eine Art und Weise verwenden, die sie zu gehaltlosen Floskeln und Clichés machen.

(c) Brigitte Hansmann, DFA-Praktiker der somatischen Mustererkennung und archetypische Musteranalytiker.

www.dfa-europa.com

auf katalanisch  La transició
auf spanisch  La transición