Montag, 25. Februar 2019

Die Wende

Eigentlich war ich 1977 auf dem Weg nach Marokko, um dort einen Freund zu besuchen. Doch dann entdeckte ich Katalonien. Irgend wie war ich erleichtert. Ich fühlte mich sicher und aufgehoben, wie zu Hause. Die sogenannte Wende (la transición) von der Diktatur unter Franco zu einem demokratischen Rechtsstaat führte 1978 zur  Verabschiedung der Verfassung einer parlamentarischen Monarchie, so wie Franco es in seinem Testament verfügt hatte. Der Gedanke, beim Aufbau einer jungen Demokratie mitzuwirken, war einer der Beweggründe, die zu meinem Beschluβ führten, mich nach Abschluβ meines Studiums der Angewandten Sprachwissenschaften 1980 in Barcelona niederzulassen. All diese Jahre habe ich zunächst als Übersetzerin und später als Praktiker der Somatischen Mustererkennung und als Archetypische Musteranalytikerin meinen Beitrag zu den Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft geleistet, indem ich Menschen dabei half, sich untereinander und sich selbst zu verstehen und demokratisches und selbstbestimmtes Handeln zu erlernen. 

Am 6. September 2017 legte ich mich wie gewöhnlich nach dem Mittagessen ein Weilchen aufs Sofa und machte die Augen zu. Im Fernsehen liefen die Nachrichten. Als ich die Stimme der Präsidentin des Parlaments Carme Forcadell hörte, die Marta Rovira fragte, warum sie um das Wort bat, war ich auf einmal hell wach. Ich hatte das Gefühl, daβ alles, was ich in meinem Leben bisher getan habe, darauf abzielte, mich auf das vorzubereiten, was in diesem Moment begann. Ja selbst der Ort, an dem ich zur Welt kam, hat mir mit seiner Geschichte die nötigen Umstände geboten, die mich dazu führten, ein Wissen und Verständnis zu entwickeln, das für den Prozess der Selbstbestimmung unabdinglich ist.

Demokratisches Verhalten muβ man lernen und üben, nicht nur in Spanien. Da reicht es nicht, eben mal eine Verfassung zu verabschieden und sich dann stets auf deren felsenfestes Bestehen zu berufen. Zunächst einmal ist die spanische Verfassung verfasst worden von Menschen, die noch voll unter dem Bann des totalitären Regimes standen, in Erfüllung eines testamentarischen Mandats des Diktators und ohne Klärung der Verbrechen gegen die Menschheit, die unter diesem Regime stattgefunden hatten. Der Artikel über die unteilbare Einheit des Vaterlandes aller Spanier, auf dem die gesamte Argumentation des spanischen Staates gegen die katalanischen Bestrebungen zur Selbstbestimmung beruht, ist mit dem Rest der Verfassung, mit den Grundprinzipien eines Rechtstaates,  mit dem internationalen Recht und mit den allgemeinen Menschenrechten nicht vereinbar. In der in Spanien verfochtenen Interpretation ist er tatsächlich verfassungswidrig und rechtswidrig!

Wenn man davon ausgeht, daβ die Absicht, einen demokratischen Staat zu schaffen, ehrlich ist, muβ man dem auch die nötige Zeit zugestehen. Der Prozess der Wende hat bestenfalls gerade mal die erste Phase durchlaufen. Die Korruption zahlreicher Politiker der jeweils regierenden Parteien in Spanien ist Ausdruck der Unreife in dieser Hinsicht. Auch die Ernennung bzw. Absetzung von Richtern gemäβ der politischen Interessen der jeweiligen regierenden Parteien bezeigt einen Mangel an Reife in Sachen Gewaltenteilung. Die ständigen Beteuerungen der spanischen Politiker und Justizbeamten sowie des monarchischen Staatsoberhauptes, das Spanien eine konsolidierte Demokratie und ein moderner Rechststaat sei, hören sich angesichts ihrer Haltung, ihrer Aussagen und ihrer Handlungen für diese Musteranalytikerin an wie die Beteuerungen eines zweieinhalbjährigen, der darauf besteht, daβ er seine Schuhe alleine zubinden kann. Es ist nicht genug, Namen anzunehmen, die auf eine demokratische Haltung hinweisen. Demokratisches Verhalten zu erlernen und einzuüben geht nicht von heute auf morgen. Vor allen Dingen muβ man bereit sein, Andersdenkenden Gehör zu schenken, und die Möglichkeit erwägen, daβ sie Recht haben und man selbst vielleicht nicht.

Wenn man zum Beispiel dem jetzigen Auβenminister Borrell zuhört,  ob er nun Englisch radebrecht oder Französisch oder Spanisch spricht, selbst wenn man keine dieser Sprachen versteht, kann man ganz klar sehen und hören, daβ er den Raum in seinen Mund sehr klein macht. Wahrscheinlich ist es ihm nicht bewuβt, aber sein Körper weiβ ganz genau, daβ er zu dem, was er sagt, nicht stehen kann. Aber das auch zuzugeben, wäre ihm persönlich wahrscheinlich höchst unangenehm, nicht zuletzt weil es ihn in Spanien recht unpopulär machen würde . 

Für Deutsche und Koreaner, z. B., die eine gewaltsame Teilung ihrer Heimat erlebt haben, ist es nicht leicht zu verstehen, daβ das katalanische Volk sich aus der sogenannten Einheit Spaniens ausgliedern möchte, denn die Tatsache, daβ diese vermeintliche Einheit gewaltsam erzwungen wurde im 20. Jahrhundert von den Rebellen unter dem Kommando von General Franco und vor 300 Jahren von den Truppen von Felipe V, dem Enkel des französischen Absolutisten Louis XIV, in Miβachtung der testamentarischen Bestimmung, daβ die unterschiedlichen Institutionen und Rechte der verschiedenen Reiche zu achten seien, wird in Spanien und weiten Teilen Europas verschwiegen, geleugnet oder als irrelevant abgetan.

Das Verfahren gegen die vom katalanischen Volk gewählte Regierung und die Leiter der Bürgerinitiativen Omnium und ANC, das am 12. Februar 2019, begann, wird zeigen, ob vierzig Jahre Übung in demokratischem Verhalten wenigstens den Beginn eine Wende zustande gebracht haben, oder ob die Schergen des Diktators weiterhin am Werk sind. Ich bin stolz auf die Haltung der Leute, die jetzt auf der Bank der Angeklagten sitzen. Vom Gehalt ihrer Aussagen bis hin zum Klang ihrer Stimmen kann man hören und sehen, daβ sie von ganzem Herzen sprechen und wahrhaftig zu dem stehen, was sie sagen: Selbstbestimmung ist kein Delikt. Das ist so erfrischend im Vergleich zu der emotionalen Ladung, den Lügen und der Rechtsverdrehung in den Reden all derer, die die sogenannte Einheit Spaniens mit allen Mitteln verteidigen wollen und dabei Worte wie Demokratie, Verfassung, Rechststaat auf eine Art und Weise verwenden, die sie zu gehaltlosen Floskeln und Clichés machen.

(c) Brigitte Hansmann, DFA-Praktiker der somatischen Mustererkennung und archetypische Musteranalytiker.

www.dfa-europa.com

auf katalanisch  La transició
auf spanisch  La transición

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